Thich Nhat Hanh contra All-Leiden

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Thich Nhat Hanh äußert sich in dem 5. Kapitel 'Ist alles nur Leiden?' seines Buches 'Das Herz von Buddhas Lehre' zu der einen möglichen Interpretation der 'Ersten Edlen Wahrheit' , dass alles Menschenleben leidvoll oder letztlich leidvoll sei :

 

5. Ist alles nur Leiden?

 

[Seite 25]
Wenn wir nicht achtsam üben, kann es geschehen, daß wir die Worte unseres Lehrers oder unserer Lehrerin zu einer Doktrin oder Ideologie werden lassen. Seit der Buddha das Leiden als die Erste Edle Wahrheit beschrieb, haben viele seiner Anhänger sich ernsthaft um den Beweis bemüht, daß es auf Erden nichts anderes gäbe als Leiden.
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[Seite 26]
Heute rufen viele Menschen den Buddha an, ohne mit dem Herzen dabeizusein, oder sie üben gedankenlos und mechanisch ähnliche Praktiken aus im Glauben, daß ein solches Tun ihnen zu Einsicht und Befreiung verhelfen könne. Sie lassen sich von Formen, Wörtern und Begriffen gefangennehmen; sie setzen nicht ihren Verstand ein, um den Dharma zu erkennen und zu praktizieren. Zu praktizieren, ohne den eigenen Verstand zu gebrauchen und ohne Menschen, die uns auf dem Übungspfad wegweisend begleiten, kann gefährlich sein.
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[Seite 26-27]
Wenn wir dies lesen, könnten wir meinen, das wäre eine Theorie ("Alle Gebilde sind Leiden"), die wir in unserem täglichen Leben zu bestätigen haben. An anderen Stellen derselben Sutras jedoch erklärt der Buddha, daß wir Leiden nur dann zur Kenntnis nehmen sollen, wenn es gegenwärtig ist, und daß wir Freude wahrnehmen sollen, wenn kein Leiden spürbar ist. Zu Buddhas Zeiten schien es sehr verbreitet gewesen zu sein, alle Gebilde als leidhaft anzusehen, denn die oben angeführte Textstelle erscheint in den Sutras viel häufiger als die Aufforderung, Leiden zu identifizieren und den Weg zu erkennen, der zu seiner Aufhebung führt.
    Die Schlußfolgerung 'Unbeständig, also Leiden, also Nicht-Selbst' ist unlogisch. Natürlich leiden wir, wenn wir glauben, etwas sei beständig und habe ein Selbst, und dann die Erfahrung machen, daß es unbeständig und ohne ein eigenständiges Selbst ist.
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[Seite 28-29]
Die Behauptung, all unser Leiden sei durch Gier verursacht, beruht auf einem weiteren allgemeinen Mißverständnis.
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Wenn wir uns darum bemühen, die Ursachen für unser Leiden zu ergründen, werden wir erkennen, daß es zwar manchmal die Gier ist, die Leiden hervorruft, daß es aber durchaus auch auf andere Faktoren zurückgeführt werden kann. Die Behauptung, alles Leben sei Leiden, ist zu allgemein. Die Behauptung, es sei allein die Gier, die Leiden verursacht, vereinfacht zu sehr. Wir müssen sagen: "Die Basis für dieses Leiden ist diese oder jene Art von Beschwernis", und diese dann bei ihrem wahren Namen nennen. Haben wir Magenschmerzen, so müssen wir die Schmerzen Magenschmerzen nennen; leiden wir unter Kopfschmerzen, so müssen wir sie Kopfschmerzen nennen. Wie anders könnten wir sonst unserem Leiden auf den Grund gehen und den Weg finden, der uns Heilung bringt?
    Es ist wahr, daß der Buddha die Wahrheit vom Leiden lehrte, aber er lehrte auch die Wahrheit vom 'Glücklichen Verweilen in den Dingen, so wie sie sind' (drishta dharma sukkha viharin)  . Um auf unserem Übungsweg voranzukommen, müssen wir aufhören, beweisen zu wollen, daß alles leidvoll ist. Wir müssen überhaupt aufhören, etwas beweisen zu wollen. Wenn wir die Wahrheit des Leidens mit unserer Achtsamkeit berühren, werden wir imstande sein, unser spezifisches Leiden und seine spezifischen Ursachen zu identifizieren und den Weg zu erkennen, der diese Ursachen beseitigt und unserem Leiden ein Ende setzt.